MOBILEE Magazin
Glossar

von Leonie Endewardt

Gewaltprävention beginnt beim Körper und Miteinander

Mit Klasse2000 lernen Kinder ihren Körper zu spüren, Gefühle zu verstehen und Gemeinschaft zu erleben

Soziale Arbeit mit Sport und Bewegung als Schlüssel zur Gewaltprävention?

Gewalt ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft – manchmal sichtbar, manchmal verborgen. Aktuell rückt sie wieder stärker in den Fokus, und wir stehen vor der Frage, wie wir ein respektvolles Miteinander gestalten können. Sport wird oft als „Wundermittel“ der Gewaltprävention betrachtet, doch so einfach ist es nicht. Er kann Teamgeist und Fairness fördern, aber auch Aggressionen und Konfliktsituationen verstärken. Entscheidend sind gezielte Konzepte und Strukturen, die Sport und Soziale Arbeit sinnvoll verbinden. In dieser Interviewreihe stellen wir Projekte und Initiativen vor, die genau das tun. Heute im Gespräch mit Regina Ohlwerter von Klasse2000.

Regina Ohlwerter ist ausgebildete Sozialpädagogin mit Schwerpunkt im Bereich Gesundheitsförderung. Seit über 20 Jahren ist sie bei Klasse2000 tätig und verantwortet dort die Entwicklung der didaktischen Unterrichtsmaterialien. Ihr Aufgabenbereich umfasst die Erstellung von Print- und Arbeitsmaterialien für Lehrkräfte, Gesundheitsförder:innen, Schüler:innen und Eltern. In enger Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Team achtet sie darauf, dass neue Studienergebnisse und gesellschaftlich relevante Themen kontinuierlich in das Curriculum integriert werden.

Klasse2000 – Gesundheitsförderung und Gewaltprävention in der Grundschule

Klasse2000 ist ein bundesweites Präventionsprogramm für Grundschulen mit den Schwerpunkten Gesundheitsförderung, Gewalt- und Suchtprävention. Über vier Schuljahre hinweg werden Kinder durch speziell geschulte Gesundheitsförder:innen sowie Lehrkräfte begleitet. Das Programm vermittelt altersgerecht Wissen und Kompetenzen in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Entspannung, Umgang mit Gefühlen, Kommunikation und soziales Miteinander. Gewaltprävention ist dabei ein zentraler Bestandteil: Die Kinder lernen, Gefühle wahrzunehmen, Konflikte gewaltfrei zu lösen, Impulse zu kontrollieren und respektvoll zu kommunizieren. Praktische Übungen, Unterrichtsmaterialien und strukturierte Gesprächsformate fördern Teamfähigkeit, Empathie und Konfliktlösungskompetenz. 

Weitere Informationen: Klasse2000 - Gesundheitsförderung & Prävention für die Grundschule

Frau Ohlwerter, was ist Klasse2000 und welches Ziel verfolgt das Programm?

Regina Ohlwerter: Klasse2000 ist ein bundesweites Unterrichtsprogramm zur Gesundheitsförderung, Gewalt- und Suchtprävention an Grundschulen. Es begleitet Kinder idealerweise von der ersten bis zur vierten Klasse und verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz: Lebenskompetenzen wie der Umgang mit Gefühlen, Kommunikation, Bewegung, Ernährung oder Entspannung werden kindgerecht, handlungsorientiert und wissenschaftlich fundiert vermittelt. Speziell geschulte Gesundheitsförder:innen führen die Themen in die Klassen ein, und diese werden anschließend von den Lehrkräften im Schullalltag vertieft. Der spiralcurriculare Aufbau sorgt dafür, dass zentrale Inhalte regelmäßig aufgegriffen und weiterentwickelt werden, um einen kontinuierlichen Lernprozess zu ermöglichen.

Warum ist es Ihnen wichtig, Themen wie Bewegung, Ernährung, Emotionen und Konfliktverhalten nicht isoliert zu behandeln, sondern in einem ganzheitlichen Konzept über mehrere Jahre hinweg?

Regina Ohlwerter: Klasse2000 setzt bewusst auf einen ganzheitlichen Lernansatz. Denn: Die Themen hängen im Alltag eng miteinander zusammen. Zum Beispiel beeinflusst Bewegung nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern hilft auch beim Umgang mit Emotionen. Oder: Wer lernt, sich zu entspannen, kann sich oft besser konzentrieren. Diese Zusammenhänge vermitteln wir den Kindern über alle vier Grundschuljahre hinweg. Der ganzheitliche Ansatz orientiert sich dabei an den Life-Skills-Empfehlungen der WHO und stärkt gezielt die Lebenskompetenzen der Kinder - mit dem Ziel, sie für die Herausforderungen ihres Alltags zu stärken.

Lebenskompetenzen sind laut WHO Fähigkeiten, die jungen Menschen benötigen, um ihr Leben selbstbewusst und verantwortungsvoll zu gestalten. Die WHO benennt zehn zentrale „Core Life Skills“, die eine gesunde Entwicklung unterstützen: Selbstwahrnehmung, Empathiefähigkeit, kreatives und kritisches Denken, die Fähigkeit, informierte Entscheidungen zu treffen, Problemlösefertigkeit, kommunikative Kompetenz, interpersonale Beziehungsfertigkeiten, Bewältigung von starken Gefühlen und Stress. 

Weichold, K. (2024). Lebenskompetenzen und Kompetenzförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i070-3.0

Ein zentrales Ziel von Klasse2000 ist die Gewaltprävention. Wie gehen Sie dieses Thema in Ihrem Programm an und welche Rolle spielt dabei Bewegung als Mittel der Emotionsregulation und des sozialen Lernens?

Regina Ohlwerter: Gewaltprävention beginnt nicht erst beim akuten Konflikt, sondern bei der Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Kinder müssen lernen, eigene Gefühle wie Wut oder Angst zu erkennen, einzuordnen und in herausfordernden Situationen angemessen reagieren zu können. Um dies zu ermöglichen haben wir in unserem Programm verschiedene Bausteine und Methoden integriert wie beispielsweise die KLARO-Zauberformel „Stopp – Nachdenken – Handeln“ und üben gewaltfreie Konfliktlösungen z. B. in Rollenspielen oder Bewegungseinheiten. Bewegung hat dabei eine doppelte Funktion: Sie hilft Kindern, Emotionen körperlich zu regulieren und bietet gleichzeitig Raum für soziales Lernen, etwa beim Üben von Fairness, Frustrationstoleranz oder Teamfähigkeit. Ziel ist es, dass die Kinder langfristig auf ein breites Repertoire an Handlungsstrategien zurückgreifen können und so sicherer und friedlicher mit Konflikten umgehen.  

Ziel ist es, dass die Kinder langfristig auf ein breites Repertoire an Handlungsstrategien zurückgreifen können und so sicherer und friedlicher mit Konflikten umgehen.

Warum ist die Grundschule Ihrer Meinung nach ein wichtiger Ort für Gewaltprävention und welche Rückmeldungen erhalten Sie zu Ihrem Programm von Schulen, an denen Sie tätig sind?

Regina Ohlwerter: Die Grundschule ist aus unserer Sicht ein wichtiger Ort für Gewaltprävention, weil hier alle Kinder erreicht werden, unabhängig von Herkunft, sozialem Umfeld oder Bildungshintergrund, das heißt hier kommt die gesamte Vielfalt der Gesellschaft zusammen. Zudem bieten die stabilen Klassenstrukturen und festen Bezugspersonen eine gute Grundlage, um Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten. Mit Klasse2000 setzen wir bewusst früh an, bevor problematische Verhaltensweisen entstehen oder sich festigen. Wir möchten Kindern schon früh zeigen, wie sie mit Gefühlen und Konflikten umgehen können. Die Schulen, mit denen wir zusammenarbeiten, melden uns zurück, dass Kinder nach dem Programm Streitigkeiten selbstständiger und friedlich lösen - vor allem in den Pausen.

Wissenschaftliche Evaluationen spielen auch in unserem Netzwerk eine zentrale Rolle. Bei Klasse2000 fällt besonders auf, wie kontinuierlich das Programm weiterentwickelt wird. Warum ist Ihnen diese regelmäßige Überprüfung und Anpassung so wichtig und wie setzen Sie diesen Prozess konkret um?

Orientierung für wirksame Präventionsprogramme

In Deutschland gibt es zahlreiche Programme zur Vorbeugung von Gewalt, Kriminalität, Sucht und anderen devianten Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen. Doch welche dieser Angebote sind tatsächlich wirksam? Die „Grüne Liste Prävention“ bietet hier fundierte Orientierung. Die Online-Datenbank listet ausgewählte Präventionsprogramme aus den Bereichen Familie, Schule, Kinder/Jugendliche und Nachbarschaft, die nach transparenten Qualitätskriterien bewertet wurden. Grundlage dafür sind wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Konzeptqualität. Die Programme werden dabei in drei Wirksamkeitsstufen eingeteilt und zeigen auf, welche Programme in welchem Kontext sinnvoll einsetzbar sind und wie Schutzfaktoren gestärkt werden können. Die Datenbank erlaubt gezielte Recherchen, etwa nach Alter der Zielgruppe, Einsatzort oder spezifischen Risikofaktoren gemäß dem Communities That Care (CTC)-Ansatz. Entwickelt wurde sie vom Landespräventionsrat Niedersachsen in Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover.

Weitere Informationen:  www.gruene-liste-praevention.de

Regina Ohlwerter: Die Weiterentwicklung unserer Arbeit ist ein zentrales Anliegen von Klasse2000. Wer mit Kindern arbeitet und ein Programm anbietet, das auf ganzheitliche Förderung abzielt, trägt auch die Verantwortung, dieses regelmäßig zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen verändern sich, neue Herausforderungen entstehen und damit auch neue Anforderungen an Schulen und Lehrkräfte. Daher ist es für uns selbstverständlich, fortlaufend zu hinterfragen: Sind unsere Themen noch relevant? Passen die Methoden zur Lebensrealität der Kinder? Wo braucht es Anpassung: inhaltlich, methodisch oder strukturell? Und natürlich: wirkt das Programm überhaupt so, wie es beabsichtigt ist? Ein wichtiger Baustein von Klasse2000 ist die wissenschaftliche Begleitung. Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Prozessevaluationen durchgeführt – unter anderem 2012, 2016, 2021 und zuletzt 2023. Diese Untersuchungen geben uns klare Rückmeldungen: Welche Programmbausteine funktionieren gut? Wo sehen Lehrkräfte und externe Fachkräfte Potenzial zur Weiterentwicklung? Das zu wissen, hilft uns sehr bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Programms.

Außerdem gab es in unregelmäßigen Abständen Längsschnittstudien über die Wirkung von Klasse2000, die z. B. belegen, dass das Programm sich vorteilhaft auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten im Grundschulalter sowie auf den niedrigeren Konsum von Nikotin, Alkohol und Cannabis im Jugendalter auswirkt. In der „Grüne Liste Prävention“ des Landespräventionsrats Niedersachsen wurde Klasse2000 auf Grundlage einer randomisierten Kontrollgruppenstudie der Universität Bielefeld in die höchste Stufe – „Effektivität nachgewiesen“ – eingestuft. Das ist für uns ein wichtiges Qualitätssiegel und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Zugleich ist das ein Hinweis für Schulen, bei der Auswahl von Präventionsprogrammen kritisch zu prüfen, welche Programme nachweislich fundiert sind – gerade weil es auf dem Markt auch weniger seriöse Angebote gibt. Kurz gesagt: Wissenschaftliche Überprüfung und Weiterentwicklung sind kein Zusatz, sondern Grundvoraussetzung für ein qualitatives, wirksames und alltagsnahes Präventionsprogramm. Nur durch den kritischen Blick – sowohl intern als auch extern – bleibt das Programm lebendig und anschlussfähig.

Wer mit Kindern arbeitet und ein Programm anbietet, das auf ganzheitliche Förderung abzielt, trägt auch die Verantwortung, dieses regelmäßig zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

Was braucht es aus Ihrer Sicht, um Programme wie Klasse2000 langfristig zu ermöglichen und in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu implementieren?

Regina Ohlwerter: Programme wie Klasse2000 sollten nicht als freiwilliges Zusatzangebot, sondern als selbstverständlicher Bestandteil schulischer Bildung verstanden werden. Soziale Kompetenzen, Gesundheit und Konfliktfähigkeit sind keine „nice to haves“, sondern zentrale Grundlagen für erfolgreiches Lernen, Teilhabe und ein soziales Miteinander. Dafür braucht es verlässliche Strukturen, eine langfristige Finanzierung, die Einbindung in Schulcurricula und gut qualifiziertes Fachpersonal. Ebenso wichtig sind eine wissenschaftliche Fundierung sowie die bundesweite Verfügbarkeit. Das alles stellt gerade für kleinere Initiativen oft eine große Hürde dar. Gerade die Finanzierung gestaltet sich oft schwierig, wenn Fördergelder nur für einen begrenzten Zeitraum und für die Entwicklung neuer Angebote gewährt werden. Darüber wird vernachlässigt, wie wichtig es ist, erwiesenermaßen wirksame Angebote langfristig finanziell abzusichern und weiterzuentwickeln – das ist ja viel nachhaltiger, als mit großem Aufwand immer wieder neue Projekte zu entwickeln, die dann mangels Finanzierung nach vier Jahren wieder aufhören müssen.

Was wir aus dem Interview mitnehmen: 

1. Ganzheitliche Gesundheitsförderung wirkt nachhaltiger:
Klasse2000 setzt auf einen integrativen Ansatz, der Themen wie Bewegung, Ernährung, emotionale Kompetenz und Konfliktverhalten miteinander verknüpft. Kinder lernen dadurch nicht isolierte Fähigkeiten, sondern entwickeln ein umfassendes Verständnis für gesundes, soziales und selbstwirksames Verhalten.

2. Prävention beginnt in der Grundschule:
Die Grundschule bietet durch stabile Strukturen und den Zugang zu allen Kindern unabhängig von Herkunft oder Umfeld eine ideale Basis für frühe Präventionsarbeit. Wer hier gezielt ansetzt, kann problematischem Verhalten vorbeugen, bevor es sich verfestigt.

3. Bewegung fördert mehr als die körperliche Gesundheit:
Bewegungseinheiten dienen nicht nur der Fitness, sondern auch der emotionalen Regulation und dem sozialen Lernen. Sie bieten Raum für das Einüben von Fairness, Teamfähigkeit und Konfliktlösung in einem geschützten Rahmen.

4. Qualität braucht kontinuierliche Evaluation:
Regelmäßige wissenschaftliche Überprüfung ist zentral für die Wirksamkeit und Weiterentwicklung von Präventionsprogrammen. Nur durch fundierte Evaluation lassen sich Inhalte, Methoden und Strukturen an aktuelle Herausforderungen anpassen.

5. Prävention braucht langfristige Strukturen:
Programme wie Klasse2000 sollten fester Bestandteil schulischer Bildung sein – nicht als freiwilliges Zusatzangebot, sondern als systematisch verankerter Baustein. Dafür sind verlässliche Finanzierungen, curriculare Einbindung und qualifiziertes Fachpersonal unerlässlich.

Leonie Endewardt ist Sozialarbeiterin und leidenschaftliche Sportlerin mit langjähriger Vereinserfahrung. Seit 2022 engagiert sie sich bei MOBILEE in den Bereichen Positionspapier, Social Media und interne Organisation und steht in engem Austausch mit dem Netzwerk, um vor allem Bedarfe aus der Praxis aufzunehmen. 

Ein besonderer Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Gewaltprävention im Bereich „Soziale Arbeit mit Sport und Bewegung“, zu dem sie auch ihre Bachelorarbeit verfasste. In diesem Rahmen verantwortet sie die Gewaltpräventionsreihe im MOBILEE MAGAZIN.

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