MOBILEE Magazin
Glossar

von Dr. Claudia El Hawary

Soziale Arbeit in (der) Bewegung

Bewegte Zeiten – bewegte Lösungen mit Living Labs

In einer Welt rasanter gesellschaftlicher und politischer Veränderungen steht die Soziale Arbeit vor der Herausforderung, nicht nur akute Krisen zu bewältigen, sondern auch langfristige Lösungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu entwickeln. In unserer täglichen Arbeit als Jugendhilfeträger sehen wir, dass eine Reaktion auf akute Herausforderungen oder kurzfristige Lösungen nicht genügt. Unsere Vision geht darüber hinaus! Während kurzfristige Kinder- Jugendhilfemaßnahmen wichtig sind, um akute Probleme zu adressieren, braucht es für nachhaltigen sozialen Zusammenhalt einen ganzheitlichen Ansatz. Wir möchten die gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussionen und Herausforderungen für langfristige Transformationen nutzen. Nachhaltige Strukturen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu entwickeln, ist eine Aufgabe, die innovative Denkansätze und mutige Forschungsmethoden erfordert.

Über die Autorin

Dr. Claudia El Hawary leitet seit 2023 die RheinFlanke Akademie, Köln, die sich auf Methoden- und Wissenstransfer für Soziale Arbeit mit Sport spezialisiert. Die Akademie zielt darauf ab, gesellschaftliche Veränderungen durch sportbasierte Methoden zu fördern und Lösungen für soziale Aufgaben und Problemfelder aufzuzeigen. Sie unterstützt Sportvereine in ihrer sozialen Ausrichtung und stärkt pädagogische Fachkräfte in den Bereichen Jugendarbeit und Schule durch spezifische Zusatzqualifikationen. Dr. El Hawary hat eine fundierte akademische Laufbahn, unter anderem als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn und Lehrbeauftragte an der Universität Köln. Dr. El Hawary promovierte in Erziehungswissenschaft und ist Diplom-Pädagogin mit Schwerpunkt Interkulturelle Kommunikation und Bildung. Seit 1. Oktober 2024 hat sie eine Vertretungsprofessur für Soziale Arbeit im Dualen Studium, IU Internationale Hochschule am Standort Düsseldorf.

1 MOBILEE, 2024.

Wie bereits im Positionspapier von MOBILEE – Plattform für Soziale Arbeit mit Sport und Bewegung beschrieben1 kann Sport und Bewegung als Methode dazu beitragen, die Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft zu erhöhen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Sozialer Zusammenhalt ist mehr als nur das Fehlen von Konflikten. Es geht vielmehr um eine aktive Gestaltung eines inklusiven, unterstützenden und engagierten Umfelds, das die Grundlage für die individuelle und kollektive Weiterentwicklung aller Beteiligten bietet. Als anerkannter Jugendhilfeträger sind wir in vielfältigen Bereichen tätig, von Schulen und Offenem Ganztag über Hilfen zur Erziehung bis hin zu Sport- und Sozialangeboten in Jugendeinrichtungen. Diese breite Erfahrung zeigt uns deutlich, wie entscheidend eine nachhaltige, die Schulbildung ergänzende Bildung für die Zukunft und Teilhabechancen von Kindern ist.

Die Gesellschaft selbst ist für uns keine "Black Box" im Sinne Latours, denn durch unsere Vielfältigkeit sind wir nah an den Alltagsproblemen unserer Teilnehmenden. Dies ermöglicht uns, die komplexen sozialen Prozesse und aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen, um sozialen Zusammenhalt besser zu verstehen und zu analysieren.

Innovative Lösungsräume: Living Labs für Soziale Arbeit in Bewegung

In den Naturwissenschaften sind offene Experimente sehr üblich und ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Methode. Forscher:innen stellen Hypothesen auf, die durch Experimente überprüft werden, ohne den Ausgang vorher zu kennen. Unerwartete Ergebnisse sind willkommen und können zu neuen Erkenntnissen führen. Dies entspricht dem Grundgedanken der Risikoforschung, die davon ausgeht, dass Innovation oft aus der Auseinandersetzung mit Unsicherheiten und unvorhergesehenen Entwicklungen entsteht. In den Sozialwissenschaften wird tendenziell eher weniger risikofreudig geforscht. Seit der Agenda 2010 und der damit verbundenen Reform der Sozialgesetze (Hartz I-IV) ist die Soziale Arbeit zunehmend durch Privatisierung und Ökonomisierung normiert.

2 Galuske, 2002, S. 10f.

Der Druck „sichere“ Ergebnisse zu produzieren, kennzeichnet viele Projekte in ihrer Umsetzung.2  Bruno Latour prägte in den späten 1970er Jahren eine neue Richtung in der Soziologie, die die Entstehung von Wissen als dynamischen Prozess untersucht. Mit seinen Veröffentlichungen von „Laboratory Life“ (1979) sowie „Science in Action“ (1987) zeigte er, dass wissenschaftliche Arbeit ein komplexes soziales Gefüge aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, Netzwerken und Technologien ist. Latours Ansatz, Wissensproduktion als komplexes soziales Gefüge zu betrachten, findet heute in verschiedenen Forschungsformaten Anwendung. Ein Beispiel dafür sind Living Labs.

Hauptkomponenten eines Living Labs

Abb. 1: Hauptkomponenten eines Living Labs. (Petry, 2024, S. 93)

Das SSCL Living Lab Framework umfasst sieben Kernelemente für Sport und soziale Kohäsion: Ethische Haltung als Fundament, klares gemeinsames Ziel, reale Umgebung für authentische Forschung, Nutzereinbindung, Multi-Stakeholder-Beteiligung, Multi-Methoden-Ansatz und Ko-Kreation im Zentrum. Diese Elemente bilden einen ganzheitlichen, partizipativen Ansatz zur Förderung sozialer Kohäsion durch Sport. 

In der vergangenen Dekade hat sich die Wahrnehmung von Sport und körperlicher Aktivität deutlich gewandelt. Sie werden nicht mehr nur als Freizeitbeschäftigung oder Gesundheitsförderung betrachtet, sondern zunehmend als wirksame Werkzeuge zur Unterstützung sozialer Entwicklungsprozesse anerkannt. Immer häufiger werden Sport und Bewegung strategisch eingesetzt, um gesellschaftliche Ziele zu verwirklichen und den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu festigen. Allerdings erfolgt diese Implementierung meist im Rahmen von hierarchisch strukturierten, von oben gesteuerten Programmen. In „Die Ordnung der Dinge“ (1996) zeigt Foucault auf, wie die positiven Wissenschaften, die nicht einfach neutrale Beschreibungen der Realität sind, sondern vielmehr Teil diskursiver Praktiken, die Wissen und Macht miteinander verbinden, dazu beitragen, Machtverhältnisse zu verfestigen und Ungleichheiten zu reproduzieren. Living Labs dagegen zeichnen sich durch einen stark partizipativen Ansatz aus, in dem alle Beteiligten aktiv in den Prozess mit einbezogen werden. Das Living Lab versucht hierarchische Strukturen aufzubrechen und einen gleichberechtigten Austausch von Ideen und Wissen zu implementieren. Die Diversität der verschiedenen Perspektiven wird berücksichtigt. Dadurch können Lösungen entwickelt werden, die tatsächlich den Bedürfnissen und Herausforderungen vor Ort entsprechen.

 

 

 

3 vgl. hierzu und zur weiteren Diskussion der Methode: Petry et al., 2024, S. 3.: 

 

 

 

 

 

 

 

4 vgl. Caillé et al. , 2004; Adloff, 2015; Internationale konvivialistische Bewegung, 2020.

Die Autor:innen des Konzeptpapiers des Sport and Social Cohesion Lab (SSCL) Projekts, welches in vier europäischen Ländern durchgeführt wird, beschreibt das Living Lab als sowohl einen physischen Ort als auch einen kollaborativen Ansatz, bei dem verschiedene Stakeholder Lösungen in einer realen Umgebung testen und umsetzen.3 In dieser Form des Quasi-Experiments möchte die RheinFlanke durch Kopplung wissenschaftlicher und praktikscher Kompetenzen einerseits Wissen vermitteln und andererseits Wissen generieren hin auf eine Transformation zu einem sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Statt systembedingt idealtypische Modelle mit festen Zuständen und Entitäten zu entwickeln, möchten wir das dynamische Experimentierfeld Schule im Sozialraum nutzen, um ebenso dynamische, partizipative mittel- und langfristige realitätsnahe Strategien und Methoden zu erarbeiten und zu etablieren. In einem bottom-up Prozess im Sinne des Konvivialismus, einer sozialphilosophischen Strömung, die für ein neues Zusammenleben in einer post-wachstumsorientierten Gesellschaft plädiert, basierend auf den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe, Kooperation und ökologischen Nachhaltigkeit und der Betonung auf menschliche Beziehungen,4 möchten wir unsere breit aufgestellte Erfahrung nutzen, um langfristige nachhaltige Lösungen ergänzend zur aktuellen Problembewältigung anzustreben. Die gegenwärtige Praxis der Sozialen Arbeit gleicht oft einem Sisyphus-Unterfangen: Fachkräfte arbeiten unermüdlich daran, Individuen in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen und ihre unmittelbaren Probleme zu lösen. Doch kaum scheint ein Fortschritt erzielt, rollt der sprichwörtliche Stein wieder den Berg hinab, da die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen unangetastet bleiben. Der Living Lab Ansatz hingegen verspricht eine ganzheitliche und nachhaltigere Wirkung, da er es ermöglicht, über individuelle Problemlösungen hinauszugehen und kollaborativ an den Ursachen hindernder Strukturen zu arbeiten. Gemeinsam treten diverse Akteur:innen, von den Schüler:innen als Expert:innen für sich selbst, über Fachkräfte bis hin zu den Wissenschaftler:innen und Finanzpartner:innen in einen gemeinsamen Gestaltungsprozess ein. Living Labs bieten einen Rahmen, in dem Risiken nicht nur als Bedrohungen, sondern auch als Chancen für neue Erkenntnisse und Lösungsansätze begriffen werden können. Sie ermöglichen es, Innovationen in realen Kontexten zu erproben und aus unerwarteten Ergebnissen zu lernen. Alle Beteiligten sind gleichzeitig Lehrende und Lernende. Die gemeinsame Ko-Kreation trägt dazu bei, dass sich die Teilnehmenden als Teil eines größeren Ganzen wahrnehmen und stärkt damit das Zugehörigkeitsgefühl zu einer lokal verorteten Identität.

Indem wir Sport und Bewegung als integralen Bestandteil des Living Labs nutzen, machen wir uns gleichzeitig die motivierende und gemeinschaftsbildende Kraft der gemeinsamen Bewegung nutzbar, um so den gesellschaftlichen Zusammenhalt von heranwachsenden Kindern im Sozialraum zu stärken. Die RheinFlanke plant, diesen innovativen Ansatz ab 2025/26 umzusetzen. Aktuell befindet sich das Projekt noch in der Konzeptionsphase. Erste Vorgespräche mit Wissenschaftler:innen haben bereits stattgefunden, um die Grundlagen für ein fundiertes und praxisorientiertes Living Lab-Konzept zu schaffen. Ziel ist es, in den kommenden Monaten ein detailliertes Konzept zu entwickeln, das die einzigartigen Möglichkeiten von Sport und Bewegung im Kontext von Living Labs optimal nutzt und auf die spezifischen Bedürfnisse im Sozialraum zugeschnitten ist. Hier können langfristig neue Formen der Zusammenarbeit, der Konfliktlösung und der gegenseitigen Unterstützung im Schulterschluss von Wissenschaft und Praxis erprobt werden. Alle Beteiligten lernen miteinander mit Rückschlägen umzugehen, Risiken einzugehen und als multiprofessionelles Team Lösungen zu entwickeln.

Gleichzeitig erfordert dieser Ansatz den Mut, Hinderungsgründe kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls auszuschließen. Dies kann bedeuten, festgefahrene Denkmuster aufzubrechen, ineffektive Verfahrensweisen zu verwerfen oder gar strukturelle Barrieren zu identifizieren und zu beseitigen. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem neue Ideen gedeihen können, frei von den Beschränkungen des 'Das haben wir schon immer so gemacht'.

In diesem Sinne ist das Living Lab eine dynamische Plattform, die der Komplexität und Wandelbarkeit moderner Gesellschaften gerecht wird. Es bietet einen Rahmen, in dem die Vielfalt und Veränderlichkeit von Identitäten nicht als Hindernis, sondern als Ressource für Innovation und sozialen Zusammenhalt genutzt werden kann. Die Umsetzung innovativer Ansätze wie Living Labs in der Sozialen Arbeit, insbesondere im Bereich Sport und Bewegung, erfordert nicht nur Mut und Kreativität, sondern auch finanzielle Unterstützung. An dieser Stelle sind Stiftungen und Förderer:innen als wichtige Partner:innen gefragt, die mit ihrer Förderung den Weg für zukunftsweisende Projekte ebnen können.

Die RheinFlanke

Die RheinFlanke ist eine anerkannte Trägerin für sportbezogene Jugend- und Bildungsarbeit.
Seit 2006 arbeiten sie an der Verbesserung der Zukunftsperspektiven von Kindern und Jugendlichen – und das mit über 140 Mitarbeitenden an verschiedenen Standorten im Rheinland in den Bereichen Schulsozialarbeit, Ganztag und Offener Kinder- und Jugendarbeit.

RheinFlanke gGmbH
Koelhoffstr. 2a
50676 Köln

Tel: 0221 / 34 09 13 93

info[at]rheinflanke.de

Wir laden Stiftungen und Förderer, die sich für den sozialen Zusammenhalt engagieren, ein, Vorreiter eines Paradigmenwechsels in der Sozialen Arbeit zu werden. Durch die Implementierung eines Living Labs können sie in einen innovativen Ansatz investieren, der auf langfristige, systemische Verbesserungen abzielt. Diese Methode eröffnet neue Wege, um nachhaltige positive Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken. Die Unterstützung solcher Projekte ermöglicht es, neue Methoden zu entwickeln, zu erproben und zu verfeinern, die das Potenzial haben, die Praxis der Sozialen Arbeit grundlegend zu verbessern. Auch wenn der Ausgang offen ist, bietet die Förderung von Living Labs die Möglichkeit, wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen und innovative Lösungswege zu entdecken.

Wir ermutigen Stiftungen und Förderer, die Chancen zu erkennen und zu nutzen, die in der Ermöglichung solch innovativer Ansätze liegen. Ihr Engagement kann den entscheidenden Unterschied machen, um neue Wege in der Sozialen Arbeit zu eröffnen und tiefgreifende Transformationen für einen besseren Zusammenhalt in unserer Gesellschaft anzustoßen.

Literaturverzeichnis

Adloff, F. & Heins, V. (2015). Konvivialismus. Eine Debatte. Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839431849

Les Convivialistes (2014). Les Convivialistes/, Das konvivialistische Manifest (5-6). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839428986.toc

Galuske, M. (2002). Flexible Sozialpädagogik. Elemente einer Theorie Sozialer Arbeit in der Arbeitsgesellschaft. Weinheim und München.

Die konvivialistische Internationale (2020). Inhalt. In: Die konvivialistische Internationale/, Das zweite konvivialistische Manifest (5-6) (S. 119-144). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839453650-toc

Latour, B. (2002). Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Meyer, M. F. (2008). Entität. In Prechtl, P., Burkard F.-P. (Hrsg..): Metzler Lexikon Philosophie. Stuttgart: Springer. S. 126.  

MOBILEE (2024). Positionspapier: Spiel in die Tiefe – Der Mehrwert von Sozialer Arbeit mit Sport und Bewegung für die Gesellschaft. Hannover. Online verfügbar unter: https://mobilee-plattform.de/wp-content/uploads/2024/07/Positionspapier_PDF.pdf

Petry, K. et al. (2024). Keeping It Real: Insights from a Sport-Based Living Lab. Societies 2024, 14, 93. Online verfügbar unter https://doi.org/10.3390/soc1406009

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