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Glossar
PM Hoffmann / dsj

von Jana Sämann

‚Neutral‘ gilt nicht mal für Schiedsrichter:innen

Zur Problematik von Neutralitätsforderungen im Kontext von (Bildungs-)Arbeit im Sport

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Becker  Ribler, 2019, S. 197.

 

 

 

 

2 Hierfür seien die entsprechenden generellen Überlegungen zur politischen Bildung etwa bei  Hendrik Cremer (2019) und Leon Brandt (2022) empfohlen, dezidiert für die Arbeit von Sportvereinen das Gutachten von Martin Nolte (2021) sowie die Handreichung „RECHTSsicherheit im Sport“ der dsj (2021).

3 Ahlrichs & Fritz, 2021, S. 6–14.

4  DOSB & dsj, 2020.

Wenn es um die Beschäftigung mit Positionierungen und Werten im Sport und in der sportbezogenen Jugend(sozial)arbeit geht, ist auch die Frage nach ‚Neutralität‘ früher oder später Thema, etwa, inwieweit eine ‚neutrale Position‘ in konflikthaften Aushandlungen einzunehmen sei oder inwieweit ‚Neutralität‘ in sportbezogenen Bildungsangeboten gewahrt sein solle. Sportvereine als „zentraler Bestandteil des Gemeinwesens“1 haben Vorbildfunktion – wie sie sich zu gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen und zu diskriminierenden Vorfällen verhalten (oder nicht verhalten), wirkt sich auf die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung dieser Phänomene aus. Warum dabei die Vorstellung eines Rückzugs auf eine ‚neutrale Position‘ nicht zutreffend und die Forderung nach ‚Neutralität‘ problematisch ist, soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Fokus ist weniger eine Klärung von rechtlichen Grundlagen2. Vielmehr soll es im ersten Abschnitt zunächst darum gehen, den Begriff von ‚Neutralität‘ in unterschiedlichen Konnotationen in seiner Eignung für den allgemeinen Bildungskontext zu hinterfragen sowie die Bezugspunkte darzustellen, auf die sich bei der Ableitung eines ‚Neutralitätsgebotes‘ häufig bezogen wird. Die Frage, ob Sportvereine politische Räume seien oder nicht, wurde vielfach geführt und kann klar bejaht werden. Sowohl die Arbeit im Sportverein als auch an den Schnittstellen von Sport und Sozialer Arbeit sind ebenso in ihrem Potential als Raum demokratischer Bildung anzuerkennen3,4 .

Warum es momentan dennoch eine solche Konjunktur der Debatte um ‚Neutralität‘ gibt, ist im nächsten Abschnitt dargestellt. Hier wird nachgezeichnet, dass für die aktuelle Popularität des Neutralitätsbegriffes maßgeblich die AfD sorgte, welche den Begriff als Instrument von Delegitimationsversuchen gegen zivilgesellschaftliche Akteur:innen benutzt. Wie das funktioniert und welche Funktionen die Neutralitätsforderungen erfüllen, zeigt der anschließende Abschnitt anhand von zwei Beispielen. Im Fazit sind noch einmal die wesentlichen Aspekte zusammengefasst.

‚Neutralität‘ als Anforderung an Bildungsarbeit?

In der politischen Bildung hat es immer wieder Aushandlungen darüber gegeben, inwiefern ein bestimmtes Verständnis von ‚Neutralität‘ in Bezug auf die bildenden Personen und Institutionen notwendig erscheint, um eine eigenständige Werturteilsbildung zu ermöglichen, ohne dabei politische, religiöse oder weltanschauliche Positionen vereinnahmend darzustellen. Verschiedene, durchaus unterschiedliche Konzepte von ‚Neutralität‘ sollten daher vor Ideologisierung und Indoktrination schützen – und lösen doch oftmals essenzielle Ansprüche nicht ein:

5 Meilhammer, 2008, S. 59.

Wenn etwa „Neutralität als Abstinenz“5 beschrieben wird, in dem Sinne, dass als politisch umstritten aufgefasste Themen in der Bildungsarbeit ausgelassen werden, bedeutet die generelle Dethematisierung, dass für diese Themen kaum Anregungen zur Auseinandersetzung geleistet werden können. Außerdem stellt auch die Nicht-Thematisierung bestimmter Themen keine ‚Neutralität‘ dar, denn allein die Aushandlung, was als kontrovers aufzufassen wäre und was nicht, ist schon eine politische Entscheidung, und ein vermeintlich ‚neutrales Verhalten‘ stärkt hier direkt oder indirekt meist die sowieso schon dominanten Positionen. Wenn etwa Fragen von geschlechterbezogener Ungerechtigkeit nicht thematisiert werden, kann kaum Sensibilisierung für nach wie vor existente gesellschaftliche Machtverhältnisse stattfinden, und sie werden unhinterfragt fortgeschrieben.

Mythos Neutralitätsgebot?

Seit einigen Jahren wird Bildungsarbeit unter Druck gesetzt: Nicht nur, aber insbesondere rechte Akteure fordern, dabei ein vermeintliches Neutralitätsgebot zu erfüllen.

Als Bezugspunkte werden dabei das staatliche Neutralitätsgebot sowie der Beutelsbacher Konsens herangezogen. Letzterer formuliert mit Überwältigungsverbot, Indoktrinationsverbot und Schüler:innenorientierung drei Grundsätze, die zunächst für die schulische Politikdidaktik gedacht worden sind, heute aber auch außerschulisch rezipiert werden. Ein „Neutralitätsgebot“ formuliert er nicht. Ersteres formuliert spezifische Neutralitätsverpflichtungen für staatliche Hoheitsträger*innen.  Neutralität wird dabei aber keineswegs als „Wertneutralität“ verstanden, denn schließlich formuliert das Grundgesetz spezifische Werte, insbesondere von Menschenwürde und Demokratieprinzip (Brandt 2022, S. 10). Insbesondere freie Träger, wie sie an der Schnittstelle Sozialer Arbeit und Sport häufig tätig werden, sind jedoch als zivilgesellschaftliche Akteure nicht in dieselben Verpflichtungen zu nehmen wie staatliche Hoheitsträger*innen, und auch die Inanspruchnahme öffentlicher Finanzierung verpflichtet nicht zu denselben Neutralitätsverpflichtungen. Eine rechtliche Einschätzung hierzu findet sich Brandt (2022), eine deutliche Positionierung zur Nicht-Neutralität hat die AGJ (2023) veröffentlicht.

 

6 Meilhammer, 2008, S. 66.

 

 

 

 

 

7 Marcuse, 1966, S. 99.

Demgegenüber wäre ein Konzept von Neutralität verstanden als „Geltenlassen von allem“6, also von unbedingter Gleichbehandlung und einem Gleichwertigkeitszuspruch jeder Äußerung im politischen Diskurs, schlussendlich als demokratiegefährdend zu bewerten, wenn dabei fundamentale gesellschaftliche Grundlagen wie die Anerkennung der Menschenrechte oder der freiheitlichen Demokratie zur Disposition gestellt werden. Die damit verbundene Problematik ist etwa bei Marcuse unter dem Begriff der Toleranz beschrieben worden, der formulierte, dass solch „unterschiedslose Toleranz“7 in harmlosen Debatten gerechtfertigt sein mag, „aber die Gesellschaft kann nicht dort unterschiedslos verfahren, wo die Befriedung des Daseins, wo Freiheit und Glück selbst auf dem Spiel stehen“ (ebd.). Äußerungen, die Rassismus reproduzieren, sind eben nicht mit einem Verweis auf Meinungsfreiheit zu rechtfertigen. Vielmehr müssen sie kritisch kommentiert und zurückgewiesen werden, da ein Geltenlassen eine Verletzung und grundlegende Gefährdung fundamentaler gesellschaftlicher Vereinbarungen wie die des Schutzes der Würde des Menschen bedeuten würde. Das bedeutet nicht, dass entsprechende Äußerungen nicht mehr getätigt werden dürften – es bedeutet aber eben auch nicht, dass sie mit einem Verweis auf „Neutralität“ kommentar- und sanktionslos stehen gelassen werden müssten.

Bezugspunkte eines vermeintlichen ‚Neutralitätsgebotes‘

Wenn aktuell die Einhaltung eines vermeintlichen ‚Neutralitätsgebotes‘ in der Bildungsarbeit gefordert wird, gibt es meist zwei Bezugspunkte, welche diese Forderung rechtfertigen sollen: Den Beutelsbacher Konsens sowie das staatliche Neutralitätsgebot. Beide beziehen sich eigentlich gar nicht auf die Bildungsarbeit in der Jugendarbeit oder im Verein, werden in der Debatte jedoch durch die die ‚Neutralität‘ einfordernden Akteur:innen angeführt und sind daher im Folgenden kurz dargestellt.

 

 

 

8 Hierzu auch kritisch: Widmaier & Zorn, 2016.

 

9 Wehling, 1977, S. 179 f.

 

 

 

 

 

 

 

10 LZPB Baden-Württemberg, 2019.

11 dsj, 2019.

Der Beutelsbacher Konsens entstand im Nachgang einer Tagung von Politikdidaktikern 1976 und formuliert drei Grundsätze politischer Bildung, die zunächst für die schulische politische Bildung postuliert wurden, heute aber auch außerschulisch vielfach rezipiert werden8. Zunächst geht es um ein Überwältigungsverbot, welches es „nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern“9 – also eine Ablehnung von Indoktrination. Daran schließt das Kontroversitätsgebot an, welches die Notwendigkeit vielfältiger Perspektiven thematisiert, denn „was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen“ [ebd.), sowie ein Gebot der Teilnehmenden-Orientierung, welche „in die Lage versetzt werden [müssen], eine politische Situation und [ihre] eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne [ihrer] Interessen zu beeinflussen“ (ebd.). Ein Neutralitätsgebot ist darin nicht formuliert – und bezüglich dieser Fehlinterpretation formuliert die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, der Bezug auf den Beutelsbacher Konsens bedeute eine Verpflichtung „gegen Indoktrination, aber nicht zur Wertneutralität“10. Für die (Bildungs-)Arbeit im Sportverein etwa besteht mit der Leitidee eines „Sport mit Courage“11 ein dezidiert auf die „Werte eines fairen und respektvollen Miteinanders“ (ebd.) bezogenes Selbstverständnis.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12 Hufen, 2018, 218; vgl. hierzu auch dsj 2021, 7 f. sowie Nolte, 2021, 14 ff.

13 Brandt, 2022, 16 ff.

 

Über die Autorin

Jana Sämann hat Soziale Arbeit B.A. sowie Erziehungs- und Bildungswissenschaften M.A. studiert und war längere Zeit in der Jugendverbandsarbeit in Bremen beschäftigt. Mittlerweile arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit politischer Bildung in Handlungsfeldern der Jugendarbeit

Das staatliche Neutralitätsgebot ergibt sich aus Rechten der politischen Parteien aus Art. 21 (1) des Grundgesetzes. Danach sind staatliche Hoheitsträger dazu verpflichtet, Parteien grundsätzlich in gleicher Weise zu behandeln, um das Recht auf Chancengleichheit im Wettkampf um politische Meinungsbildung zu wahren. Bedeutsam ist hier zunächst die Verpflichtung der Akteur:innen: Staatliche Hoheitsträger sind durch das Grundgesetz verpflichtet. Freie Träger und Verbände sind aber keine staatlichen Hoheitsträger, sondern zivilgesellschaftliche Akteur:innen – sie sind in dieser Konstellation Grundrechteträger, und auch das Empfangen von staatlichen Fördergeldern macht sie nicht zu Grundrechtsadressat*innen. Tatsächlich ergibt sich auch hier kein allgemeines Neutralitätsgebot für die Bildungsarbeit zivilgesellschaftlicher Akteur:innen, sondern eher ein Gebot der Sachlichkeit in politischen Auseinandersetzungen, denn die „Auseinandersetzung mit den ideologischen Grundlagen und den allgemeinen Zielen und Inhalten einer Partei ist ebenso wenig Eingriff und Verstoß gegen das Neutralitätsgebot wie das Zitat aus Parteiprogrammen, die sachliche Information über die Aktivitäten der jeweiligen Partei und eine Schilderung von deren eigenen Versuchen, Jugendliche und andere soziale Gruppen zu beeinflussen“12. Neutralität ist auch im Kontext staatlicher Neutralität nicht mit einer Werte-Neutralität zu verwechseln13.

Zur aktuellen Konjunktur des Neutralitätsbegriffes

Dass ‚Neutralität‘ aktuell ein so häufig gebrauchter (und ebenso häufig zurückgewiesener) Begriff in der Bildungsarbeit ist, kann wohl maßgeblich auf die ‚Neutrale Schulen‘-Kampagne der AfD zurückgeführt werden. Der Ende 2018 gestartete Versuch, mittels eines online-Meldeportals vermeintliche Neutralitätsgebotsverstöße bei Lehrkräften zu erfassen, erwies sich zwar in dieser direkt formulierten Intention als wenig erfolgreich. Deutlich wahrnehmbar ist jedoch der Effekt, dass seitdem eine verstärkte Auseinandersetzung um ‚Neutralität‘ in den schulischen und außerschulischen Bildungsbereichen stattfindet. Auch wenn die Meldeportale mittlerweile als irrelevant betrachtet werden können, operiert die Öffentlichkeitsarbeit der AfD in Bezug auf den Bildungsbereich weiterhin mit Forderungen nach ‚Neutralität‘ sowie begleitenden Vorwürfen, Bildungsarbeit sei tendenziös, indoktrinierend und ideologisch instrumentalisierend. Auffällig sind hier zwei Argumentationsstränge: Zum einen die Diffamierung einer geschlechtergerechten Bildungsarbeit, welche die Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt angemessen einbezieht, und zum anderen die Delegitimierung von Bildungsarbeit, welche sich generell mit Macht- und Ungleichheitsverhältnissen beschäftigt und dabei etwa kritisch auf Rassismus, Nationalismus oder anderen Ideologien der Ungleichheit hinweist.

Auf parlamentarischer Ebene entwickelt nicht nur, aber insbesondere die AfD Aktivitäten, indem sie Parlamentarische Anfragen stellt, die sich mit vermeintlichen Neutralitätsgebotsverletzungen beschäftigen. Dabei werden sowohl öffentliche Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen angefragt als auch Kunst- und Kultureinrichtungen, freie Träger der Jugendarbeit sowie weitere zivilgesellschaftliche Akteur:innen. Unter Titeln wie „Kampf gegen Rechts aus Steuermitteln“ stellen AfD-Fraktionen Anfragen, die sich auf die (Bildungs-)Arbeit von freien Trägern beziehen. Die Beschäftigung reicht dabei von einer generellen Erfragung von Einrichtungs-, Träger- und Finanzierungsstrukturen sowie der Frage nach konkreten Personalien von Antragsteller:innen oder Vereinsvorständen bis zu direkten Indoktrinationsvorwürfen, welche mit der Forderung nach Fördermittelentzug oder auch einer Aberkennung des Status der Gemeinnützigkeit des Trägervereins verbunden sind. Die Anfragen werden begleitet von entsprechender Öffentlichkeitsarbeit.

Angriff auf zivilgesellschaftliche Akteur:innen

Das Schema der Argumentation verläuft dabei immer wieder ähnlich: Einer bestimmten Organisation wird vorgeworfen, sie halte sich nicht an das (nicht weiter erklärte) ‚Neutralitätsgebot‘, sondern arbeite nach einer eigenen Ideologie mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche zu indoktrinieren. Daher sei eine öffentliche Finanzierung zu entziehen, ggf. auch der Status der Gemeinnützigkeit. Manchmal wird auch die Prüfung strafrechtlicher Konsequenzen gefordert, wenn etwa noch ein Vorwurf des ‚Linksextremismus‘ in die Anschuldigungen aufgenommen wird. Betrachtet man die adressierten Organisationen genauer, sind es meist Vereine und Initiativen, die sich im weitesten Sinne ‚gegen Rechts‘ engagieren, Rassismus thematisieren, für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt eintreten oder Selbstorganisation und Selbstbestimmung organisieren. Auch die klare Benennung menschenverachtender Inhalte in Programm und Strukturen der AfD ist oftmals ein Ansatzpunkt, dass die Partei diese Organisationen zu diskreditieren versucht. Wenn diese Art von Bildungsarbeit immer wieder als ‚nicht neutral‘ und damit letztlich als ‚nicht legitim‘ etikettiert wird – und dieser Etikettierung nicht in einer breiten Öffentlichkeit widersprochen wird – kann das mittelfristig eine Verschiebung der gesellschaftlichen Wahrnehmung bewirken. Durch die permanente Wiederholung kann sich die öffentliche Wahrnehmung dessen, was als wünschenswerte oder akzeptable Inhalte zivilgesellschaftlichen Wirkens anerkannt werden, verschieben, und das Engagement ‚gegen Rechts‘ wirkt nicht mehr als demokratische Praxis.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

14 AfD Brandenburg, 2019, S. 1.

 

 

 

15 dsj, 2019.

Dies wird etwa am Beispiel einer Kleinen Anfrage deutlich, welche ein AfD-Abgeordneter im November 2019 an den Brandenburgischen Landtag stellte. Dabei wird die Beteiligung der Brandenburgischen Sportjugend am Verbund „Tolerantes Brandenburg“, einem Netzwerk zur Demokratiestärkung und Rechtsextremismusbekämpfung, durch die AfD skandalisiert. Zur Begründung heißt es: „Über sogenannte Berater, die entsprechend geschult und ideologisiert sind, interveniert das „Tolerante Brandenburg“ in Sportvereinen, wo Menschen mit vermeintlich fremdenfeindlichem oder rechtsextremistischem Gedankengut Mitglieder sind. Diese Interventionen dienen dazu, sportlich aktive Menschen in ihren Gemeinschaften zu isolieren, auszugrenzen und sie letzten Endes aufgrund ihrer politischen Ansichten auszuschließen“14. Damit wird ein dezidiert auf Demokratieförderung angelegtes Projekt mit einem Ideologievorwurf belegt. Die dsj sprach daher in einer Stellungnahme von einer „Zäsur“, denn „die gute und wichtige Arbeit für die Förderung der demokratischen Werte im und durch den Sport und für ein gutes Miteinander wird nicht nur in Frage gestellt, sondern durch einen ideologischen Duktus eingeordnet, der aus Sicht der dsj nicht zu akzeptieren ist“15. Wenn die AfD an dieser Stelle versucht, einen weitergeleiteten Ausschluss von extrem rechten Mitgliedern im Sportverein als Problem fehlender Neutralität darzustellen, legitimiert und normalisiert sie antidemokratische Haltungen und Handlungen.

 

 

 

 

 

 

16 AfD Bundestagsfraktion, 2022, S. 1.

17AfD Niedersachsen, 2022, S. 1.

 

 

 

 

 

 

 

18 Burghardt et al., 2018, S. 83.

Verstärkt sind auch Angriffe in Verbindung mit einem Linksextremismus-Vorwurf zu beobachten, wie etwa bei einer AfD-Anfrage zum Modellprojekt „Vollkontakt – Demokratie und Kampfsport“ der Kompetenzgruppe für Fankulturen und sportbezogene Soziale Arbeit (KoFaS). Das Projekt arbeitet zur Prävention von Gewalt und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit besonderem Fokus auf Verbindungen extrem rechter Akteure im Kontext Kampfsport und Selbstverteidigung. In parlamentarischen Anfragen im Bundestag sowie im niedersächsischen Landestag versuchten AfD-Abgeordnete, verschiedene im Projekt beteiligte Personen als vermeintlich „linksextreme Mitarbeiter“16 sowie das Projekt als „linksextreme[n] Verein“17 zu diskreditieren und die Förderfähigkeit des Projektes in Abrede zu stellen. Belegt wird der Skandalisierungsversuch mit Verweisen auf Vortrags- und Bildungsarbeit der Mitarbeitenden bei verschiedenen Antifa- und Ultra-Gruppen. Der Bezug auf ein vermeintliches Extremismusmodell und der formulierte Vorwurf des Linksextremismus kann hier verstanden werden als Versuch einer weitreichende Diskreditierung, denn „wer mit dem Label ‚linksextrem‘ behaftet ist, damit also als Demokratiefeind gebrandmarkt wird, mit dem wird nicht nur nicht mehr geredet — vielmehr werden von solchen Akteur:innen geäußerte Perspektiven und Vorschläge zu lokalen Problemlagen gar nicht mehr als legitimer Beitrag zur Debatte gehört“18. Eine solche Markierung bewirkt nicht nur den Ausschluss von Expertise der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, sondern stellt ihre Legitimation an sich in Frage. Konkret zeigt sich hier exemplarisch ein strategischer Versuch, nicht nur Projekte der Demokratieförderung generell, sondern speziell die kritische Auseinandersetzung mit Akteuren und Positionen der extremen Rechten zu verhindern.

Fazit

Das Sozialgesetzbuch formuliert grundsätzlich für die Jugendarbeit, dass diese „an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen“ (§11 SGB VIII) soll. Daher ist festzuhalten, dass in einer an den Interessen junger Menschen ausgerichteten und auf Beteiligung angelegten Jugendarbeit, sei es im Sportverein oder in Initiativen Sozialer Arbeit mit Sport und Bewegung, selbstverständlich auch der Wunsch nach kritischer Auseinandersetzung mit Parteien und ihren Positionen zu berücksichtigen ist. Auch und gerade wenn Parteien antiegalitäre Positionen vertreten, ist deren kritische Bearbeitung ein elementarer Bestandteil von Demokratieförderung im Sport.

 

 

19 2021, S. 49.

 

 

 

 

20 Fuhrmann, 2019, 125 f.

In einer Studie zur Jugendpolitik der AfD konstatieren Hafeneger und Jestädt, dass die wiederholten Bezugnahmen auf ein vermeintliches ‚Neutralitätsgebot‘ die Nutzung des Neutralitätsbegriffes als „einem rechten Kampfbegriff“19 nahelegen. Die Darstellung der AfD, wonach eine kritische Thematisierung der Partei hinsichtlich ungleichheitsideologischer Inhalte einen unzulässigen Eingriff in den Prozess der politischen Meinungsbildung darstelle, kann daher als Versuch einer Schutzbehauptung zur Aufrechterhaltung der eigenen Legitimität aufgefasst werden. Weiter stellt sie eine Strategie dar, den Rahmen des Sagbaren hinsichtlich rassistischer, völkischer und antiegalitärer Aussagen zu erweitern20. Und schließlich ist sie auch als Vorgehensweise zu benennen, mit welcher eine Diskreditierungsversuch erfolgt, denn sowohl die konkret mit der Neutralitätsforderung adressierten Akteur:innen als auch zivilgesellschaftlich ‚gegen Rechts‘ Engagierte allgemein werden dabei als ‚nicht neutral‘ und tendenziös markiert – und damit als berechtigte Position im Diskurs zumindest in Frage gestellt, wenn nicht gänzlich delegitimiert.

Wenn eine parteipolitische Neutralität, wie sie bei vielen Vereinen in der Satzung steht, als eine allgemeine politische Neutralität fehlinterpretiert wird – und sowohl die AfD als auch andere Akteure des rechten Spektrums bemühen sich, diese Fehlinterpretation durchzusetzen – führt dies zu einer Verschiebung der im öffentlichen Raum akzeptierten Positionen und Äußerungen. Wenn das Eintreten gegen Rassismus, die Solidarität mit Betroffenen rechtsextremer Gewalt oder die Thematisierung antiegalitärer Akteur:innen und Themen auch im Sport nicht mehr als selbstverständliche Grundlage einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft gelten, ist das keine ‚Neutralität‘, sondern extrem rechte Landnahme in einem gesellschaftlichen Bereich, der sich selbst über seine Werte von Fairness, Respekt und Teamgeist definiert.

Die Deutsche Sportjugend (dsj)

Die Deutsche Sportjugend (dsj) ist die Jugendorganisation im Deutschen Olympischen Sportbund e.V. (DOSB) und koordiniert die gemeinsame Arbeit der Mitgliedsorganisationen. In Zusammenarbeit mit diesen sowie weiteren gesellschaftlichen Akteuren setzt sie sich für die Weiterentwicklung sportlicher und allgemeiner Jugendarbeit ein. Ihr Ziel ist es, Bildung, Betreuung und Erziehung durch Kinder- und Jugendarbeit im Sport zu fördern und so zur Bewältigung gesellschaftlicher und jugendpolitischer Herausforderungen beizutragen.

Die dsj vertritt die Interessen von über 10 Millionen Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen bis 26 Jahre, die in rund 86.000 Sportvereinen organisiert sind. Diese verteilen sich auf 16 Landessportjugenden, 62 Jugendorganisationen der Spitzenverbände und 10 Jugendorganisationen der Sportverbände mit besonderen Aufgaben. Damit ist die Deutsche Sportjugend der größte freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.

Literaturverzeichnis

AfD Brandenburg (2019). Brandenburgische Sportjugend im Landessportbund Brandenburg e.V. im Beratungsnetzwerk "Tolerantes Brandenburg". Kleine Anfrage an den Landtag Brandenburg. Drucksache 7/236.

AfD Bundestagsfraktion (2022). Förderung des Projekts „Vollkontakt“ und linksextreme Mitarbeiter. Kleine Anfrage an den Deutschen Bundestag. Drucksache 20/4692

AfD Niedersachsen (2022). Finanziert Toto-Lotto linksextreme Vereine? Anfrage des Abgeordneten Stephan Bothe (AfD) und Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung. Drucksache 19/17.

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2023). Demokratisch und nicht indifferent – Orientierungen und Positionierungen zum Neutralitätsgebot in der Kinder- und Jugendhilfe. Positionspapier. https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2023/Positionspapier_Neutralitätsgebot.pdf.

Ahlrichs, R. & Fritz, F. (2021). Sportvereine als Orte von politischer Bildung und Demokratiebildung. In: Forum Kind Jugend Sport 2 (1), S. 6–14.

Becker, R. & Ribler, A. (2019). Politisch neutral!? Beratung von Sportvereinen im Spannungsfeld zwischen Neutralität und gesellschaftlicher Verantwortung. In: R. Becker und S. Schmitt (Hg.): Beratung im Kontext Rechtsextremismus. Felder - Methoden - Positionen. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag, S. 182–198.

Brandt, L. (2022). Extrem neutral? Verfassungs-, Sozial- und Datenschutzrecht: Anforderungen und Potenziale für politische Bildung, Extremismusprävention, Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit mit rechtsextremen Kindern und Jugendlichen. Berlin. https://www.cultures-interactive.de/files/publikationen/Flyer%20Broschueren%20Dokumentationen/2022%20Rechtsexpertise%20Leon%20Brandt%20Extrem%20neutral.pdf.

Cremer, H. (2019). Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Berlin. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Analyse_Das_Neutralitaetsgebot_in_der_Bildung.pdf.

Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) & Deutsche Sportjugend (dsj) (2020). Für eine offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft. Gemeinsame Haltung von DOSB und dsj zum Umgang mit antidemokratischen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien, Gruppierungen und Akteur*innen. https://cdn.dosb.de/UEber_uns/Gemeinsame_Positionierung_gegen_Rechtspopulismus_DOSB_dsj.pdf.

dsj – Deutsche Sportjugend (2019). Deutsche Sportjugend verurteilt Angriff der AfD-Fraktion. Pressemitteilung vom 20.12.2019. https://www.dsj.de/ja/news/artikel/deutsche-sportjugend-verurteilt-angriff-der-afd-fraktion-brandenburg-auf-die-werte-des-sports/.

dsj - Deutsche Sportjugend (2021). RECHTSsicherheit im Sport. Politisch neutral?! Umgang mit Positionierungen, Vermietungen, Einladungen. https://www.dsj.de/fileadmin/user_upload/Mediencenter/Publikationen/Downloads/dsj-Handreichung_RECHTSsicherheit_im_Sport_01.pdf.

Fuhrmann, Maximilian (2019). Die AfD und das Extremismus-Konzept. Geschwister im Geiste. In: B. Dunkel, C. Gollasch & K. Padberg (Hg.): Nicht zu fassen. Das Extremismuskonzept und neue rechte Konstellationen. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin.

Hafeneger, B. & Jestädt, H. (2021). Jugend- und bildungspolitische Aktivitäten der AfD in 16 Landesparlamenten und im Bundestag. In: B. Hafeneger, H. Jestädt, M. Schwerthelm, N. Schuhmacher und Gi. Zimmermann (Hg.): Die AfD und die Jugend. Wie die Rechtsaußenpartei die Jugend- und Bildungspolitik verändern will. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag. S. 13–108.

Hufen, F. (2018). Politische Jugendbildung und Neutralitätsgebot. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens (2/2018). S. 216–221.

Dieser Artikel ist eine Republikation der dsj.

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